Ein Index wird erwachsen – über die menschliche Krisenpsychologie, mit der sich (fast) alles erklären lässt

Marla Korth

31. Juli 2020

Es ist schon kurios. An einem Tag herrscht eine globale Pandemie, die Menschheit und Wirtschaft ins Chaos stürzt, am nächsten scheint sie plötzlich wie weggeweht – zumindest lassen dies DAX, S&P500 und Co. vermuten. Doch der schöne Schein trügt: Fallzahlen steigen immer noch rasant, vor den USA, Heimat von Standard & Poor´s, liegt nicht nur eine gesundheitliche, sondern nun auch eine politische Krise. Und doch, herrscht Aufwind am Parkett. Warum?

 

Es ist der Einblick in die menschliche Psyche, der immer wieder Erklärungen für scheinbar irrationale menschliche Handlungen an der Börse liefert. Grundlage ist die Annahme, Börsenkurse seien als menschliche Indikatoren stets unter dem Einfluss von persönlichen Wahrnehmungen und Emotionen. Im Zentrum stehen dabei vor allem zwei: Panik und Gier. Erstere ist ansteckend, letztere auch. Erstere schickt Aktienkurse ins Tal der Tränen, letztere sorgt für Aufwind, wie wir ihn derzeit erleben.

 

Besonders eindrucksvoll illustriert dieses Geschehen die selbsternannte Supermacht der USA, wo trotz stündlicher schrecklicher Rekorde und einer Führung geprägt von Selbstüberschätzungen, Drohungen und der ständigen Angst vor den Wahlen, zumindest für ihre Aktionäre etwas Sonnenschein durch die dunkle Corona-Wolkendecke bricht.

 

Es ist die Analyse des Faktors „Mensch“, wie sich herausstellte der entscheidende in der aktuellen Krise, die Antworten liefert. Die Analyse einer Börsenhistorie, die ein wohl kaum verzerrteres Spiegelbild der Gegenwart abgeben könnte und die sich aus der situationellen Simplizität der menschlichen Psyche ergibt.

Kindliche Verleugnung – Du siehst mich nicht, ich sehe dich nicht

 

Wie viele gute Geschichten, beginnt auch jene von Corona zu einer Zeit, wo sich die beteiligte Figuren noch in Sicherheit wähnen, während über ihnen langsam der Himmel zuzieht und das drohende Unwetter vermuten lässt, dass sich die Welt, in der sie bis dato lebten, schlagartig verändern würde. Der Anfang ist schwer zu datieren, legen wir für die Beobachtung des westlichen Marktes allerdings einen Ausganspunkt im Januar diesen Jahres fest. Hier hatte die WHO verkündet, es handle sich bei der chinesischen Erkältungskrankheit nicht lediglich um eine moderne Grippe, sondern um eine „Notlage mit internationaler Tragweite“. Nun gut.

 

Die Äußerung wurde allerding in kindlicher Manier kopfschüttelnd geleugnet, man kniff die Augen zu und schlitterte so wenig bis gar nicht vorbereitet in eine globale Ausnahmesituation. Doch: Es war auch eine Situation, deren Ausmaß kaum begriffen, geschweige denn eingeschätzt werden konnte, war die letzte vergleichbare Lage schließlich vor über 100 Jahren der Ausbruch der Spanischen Grippe. Zeitzeugen konnten dank mangelnden Vorhandenseins oder hohen Alters keine Auskunft geben. Hätten sie dies doch getan und man lege die verrückte Annahme zugrunde, man hätte sie tatsächlich zu Rate gezogen, so wäre uns möglicherweise trotz aller Warnungen unsere technische Arroganz und das auf KI, Machine Learning und neuster Technologie gestützte Überlegenheitsgefühl zum Fallstrick geworden.

 

Weiteres Indiz: Das Virus wurde erst Mitte Februar von der WHO getauft, bis dato war es, zumindest aus wissenschaftlicher Sicht, namenlos. Und namenlos bleibt nur, wem kein dauerhaftes Bleiben, geschweige denn eine Gefahr, unterstellt wird. Da waren wir also: Ein Virus ohne Namen, eine Bevölkerung ohne Gefahrenbewusstsein und ein Aktienindex ohne Talfahrt.

 

Doch wie heißt es so schön? Hochmut kommt vor dem Fall. Und man fiel. Und fiel.

Pubertäre Panik oder der Punkt, ab dem es schmerzt

 

Zu Anfang rutschte man zunächst langsam auf dem Hosenboden den Berg hinab, die Suchanfrage nach den Schlagworten Corona und Pandemie schossen in die Höhe, allerdings waren die Fälle außerhalb Chinas zunächst sehr limitiert und ihr Infektionsgeschehen detailliert nachzuverfolgen. Videos von Supermarkt-Kämpfen um Hygieneartikel in Hongkong verbreiteten sich über soziale Netzwerke in rasender Geschwindigkeit, sorgten weltweit aber mehrheitlich für eine belächelte „bei denen aber nicht bei uns“-Haltung. Doch aus dem langsamen Schlittern gen Tal wurde irgendwann der freie Fall. Das kindliche Kopfschütteln verwandelte sich in eine pubertäre Krisensituation, geprägt von Unsicherheit, Panik und der Suche nach dem richtigen Weg.

 

Das Virus hatte Italien vollkommen unerwartet erreicht, gleichzeitig wurden Berichte aus dem strengen Lockdown in China laut und den Marktteilnehmern stand langsam der Schweiß auf der Stirn. Man murmelte, dies sei ja wie bei der Großen Depression der Dreißiger, das Unwort der Rezession fiel und sämtliche Indizes schielten nun sehnsüchtig zurück in den Januar, wo die Welt außerhalb Chinas noch in Ordnung zu sein schien. Es war wieder einmal der Herdentrieb, der das Dilemma verzapft hatte: Plötzlich wurden die anderen hektisch, man tuschelte, man blickte furchtsam um sich und versuchte einen Blick auf den Tisch des Nachbars zu erhaschen, der es vielleicht besser wusste, als man selbst (vielleicht aber auch nicht). Letzteres war in der aktuellen Krisensituation allerdings zweitrangig, denn Menschen bedienen sich in unbekannten Lagen entweder altbekannten Mustern oder Beobachtungen ihres Umfelds. Kurzum: Verkauft er, verkaufe ich auch. Es ist oftmals das Erreichen einer persönlichen Verlustgrenze, eines Limits, ab dem es wehtut. Dies setzte wiederrum eine dominoartige und von Panik geprägte Kettenreaktion in Gang, von der wir wissen, wo sie endete.

Jugendlicher Aktionismus – von der Angst, etwas zu verpassen

 

Wo sie endete? Aktuell auf dem Niveau des letzten Jahres, als bei der Internetsuche des Schlagwortes Corona, lediglich das in die USA meistimportierte Mischbier auf dem Bildschirm erschien. Welch eine Ironie.

 

Und dann, nach all der Angst und pubertären Panik, schlich sich langsam und unbeobachtet die Gier an und wirbelte, hatte die Unsicherheit der letzten Wochen dies nicht bereits getan, nun auch das letzte Körnchen Staub auf. Mitte März kündigte die US-Regierung an, sie wolle nun zur Unterstützung der nationalen Wirtschaft unbegrenzt Staatsanleihen und bestimmte Hypotheken aufkaufen. Sie warf damit alles in die Waagschale und versuchte auf diese Weise ein stabiles Gegengewicht zum Corona-Chaos zu erzielen, welches die nationale Balance wiederherstellen und die angeschlagenen Finanzmärkte aufpäppeln sollte. Patriotismus oder im Angesicht des nahenden Wahlkampfes purer Egoismus? Auslegungssache.

 

Fast zeitgleich hatte die Fed, also die US-Notenbank, bereits Zinssenkungen angekündigt. Das Konjunkturpaket schien also geschnürt und mit Schleifchen versehen.

 

Und unsere gierigen Aktionäre? Die machten sich sogleich daran, das Päckchen ungeduldig aufzureißen. Gleichzeitig wurden auch ähnliche Maßnahmen aus Europa bekannt und so schlüpften die Indizes in ihre Kletterschuhe und begannen den mühsamen Weg aus dem Tal, in welches Corona sie katapultiert hatte, wieder hinaufzuklettern. Es wurde eine Steilwand. Binnen weniger Wochen hatten sie fast Vorjahresniveau erreicht, aus der Angst vor dem Verlust war die Angst geworden, etwas wirklich Großes zu verpassen. Jugendlicher Aktionismus oder FOMO, Fear of Missing out. Niemand wollte bereuen, nicht rechtzeitig wieder an den Markt zurückgekehrt zu sein und so machte sich an der Börse das breit, wovor allseits gewarnt wurde: Emotionen.

Die ewige Jugend der Börse?

 

Wie endet also die Geschichte der Indizes und ihres Kampfes gegen den Abwärtstrend? Noch jedenfalls, gar nicht. Die Börse verhält sich ähnlich aufgeregt, wie es auch jene tun, die dort handeln (auch wenn sie selbst dies vermutlich leugnen würden) und ist gleichzeitig auch nur so stabil wie sie. Ausreißer und Steilwände gibt es immer dann, wenn diese Stabilität gegen die Grundzüge der menschlichen Handlungsmotivation, Angst und Gier, eingetauscht wird. Ganz erwachsen werden wird unser Index also nie so ganz. Er wird schwanken, er wird ähnlich unentschlossen und abenteuerlustig wie ein Jugendlicher in der Blüte seines Lebens sein, nach links und rechts blicken und versuchen, nichts zu verpassen. Ob’s klug ist? Wer weiß. Ob’s spannend bleibt? Definitiv.

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